Paramilitärs in Polen: Krieg der Langeweile
Was bewegt junge Polen zum Hobby-Drill in paramilitärischen Organisationen? Eins ist sicher, es geht dabei nicht nur um die Angst vor Russland. Zumindest nicht ausschließlich.
Mitten in der Nacht, um halb zwei, unterbricht der Lärm von Feuerwerksknallern die geruhsame Stille. Sie sind auch noch zu hören, als die Vorgesetzten längst in die Zimmer stürmen, das Licht anmachen und Alarm schlagen. Mit einer Mischung aus Schock und Müdigkeit in den Augen, fahren die Teenager von ihren Isomatten hoch und knöpfen nervös ihre Uniformen zu. Ununterbrochen brüllen die Ausbilder: „Los, zum Waffenmagazin!“ – „Schneller! Runter auf den Boden!“
Die Nachwuchsrekruten bekommen Waffen, Helme und Westen, dann liegen sie auf dem Flur. Der Vorgesetzte kündigt nun an, dass ein langer Laufmarsch ansteht. Aber wie lang weiß keiner so richtig. Alsbald laufen zwei Mädchen und 14 Jungen in Doppelreihen schnurstracks in den dunklen Wald. Zehn Minuten sind seit der ‚Explosion‘ vergangen. Vor dem Gebäude bleibt im Dämmerlicht der Laterne nur Piotr Augustynowicz, der Kommandant der Polska Organizacja Wojskowa (abk. POW, Polnische Militärorganisation) zurück.
Allem Anschein zum Trotz sind wir nicht auf einem polnischen Militärmanöver, sondern bei einem Wochenend-Camp der paramilitärischen Organisation, die Augustynowicz gegründet hat. Statt Kasernen gibt es hier Fachhochschulgebäude. Statt professionellen Soldaten – Jugendliche und ihre Vorgesetzten in den Mittzwanzigern. Statt echten Waffen – Spielzeuggewehre, die das Militär normalerweise für Nahkampf-Training nutzt.
Was aber echt ist, sind die Unterwürfigkeit, das Brüllen und die grundlegende Frage: Wer würde schon freiwillig so seine Freizeit verbringen. Und besonders, warum? Gerade an diesem heißen Juniwochenende in Augustów, einem malerischen Urlaubsort im Nordosten von Polen.
Europas Achillesferse
Als Russland 2014 militärisch in der Ukraine intervenierte, schrieben viele westliche Medien, dass es die Angst vor Russland sei, die junge Polen dazu treibe, sich Organisationen wie der POW anzuschließen. Die entlegene Grenzregion um Suwałki zog schon immer die Aufmerksamkeit von Politikern und Journalisten auf sich. Denn die sogenannte Suwałki-Lücke, ein 104 Kilometer langer Korridor an der litauisch-polnischen Grenze zwischen Belarus und der russischen Enklave Kaliningrad, ist ein NATO-Schwachpunkt, die Achillesferse für einen eventuellen russischen Angriff. Deshalb wurden seit 2017 im Rahmen der NATO-Mission 70 Kilometer westlich von Suwałki 800 US-Soldaten stationiert.
Es wäre aber zu einfach anzunehmen, es ginge den Teenagern in den Trainingslagern ausschließlich um die Angst vor Russland. „In dieser Region gibt es keine Panikmache. Es sind die Medien und die NATO, die die Atmosphäre aufgeheizt haben”, sagt der 38-jährige Trainer. Augustynowicz ist durchtrainiert, hat raspelkurze Haare und ist POW-Oberstleutnant. Man sieht an seiner natürlichen Bräune, dass er viel Zeit draußen verbringt. „Wir alle wissen, dass das hier eine strategisch wichtige Region ist. Aber Angst einjagen muss man den Leuten trotzdem nicht”, sagt er. Er habe auch nicht bemerkt, dass seit der Krim-Annexion durch Russland nun plötzlich mehr Freiwillige in seiner Organisation anheuern. „Die jungen Leute, die zu uns kommen, suchen vor allem neue Freunde oder wollen die Zeit totschlagen. Manche von ihnen haben keine Lust auf die harten Jobbedingungen in der Landwirtschaft, manche wollen fit werden und andere kommen auch aus patriotischen Gründen”, erklärt er.
Augustynowicz ist Grundschullehrer im benachbarten Ełk. Ein normales Hobby sei seine Wochenendbeschäftigung im Trainingslager wohl nicht, witzelt er. „Manche sagen, ich sei verrückt. Normale Leute grillen und trinken Bier.”
„Manche sagen, ich sei verrückt. Normale Leute grillen und trinken Bier.”
Eigentlich wollte Piotr Augustynowicz nach dem Geschichtsstudium eine Offizierslaufbahn einschlagen, aber die Militärkommission meinte, sie bräuchten gerade keine Humanisten. Ein wenig verbittert fand er daraufhin in einer der vielen paramilitärischen Organisationen, die im Polen der 1990er Jahre gegründet wurden, einen Kompromiss. 2012 kündigte er seinen Dienst und gründete seine eigene Polnische Militärorganisation, die POW.
Den Namen POW hat er einer im Ersten Weltkrieg existierenden Organisation unter Führung von Józef Piłsudski entliehen, seinerzeit ein sehr einflussreicher Politiker. Ziel der Organisation war es damals, die Polen auf den Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit vorzubereiten. Die Entlehnung von vor hundert Jahren und das Treten in die Fußstapfen von Piłsudski mögen manchem grotesk erscheinen, aber Augustynowicz lässt sich nicht einschüchtern. „Die Historiker betrachten uns mit einem Augenzwinkern. Sie loben uns sogar dafür, dass wir Geschichte vermitteln”, sagt er.
Mit Zustimmung der Eltern kann man der POW ab 13 beitreten. Die Ausstattung wird durch Mitgliedsbeiträge finanziert, je nach Einheit kostet eine Mitgliedschaft monatlich zwischen 10 und 50 Złoty (zwischen 2 und 10 Euro). Aber viele Mitglieder kaufen sogar ihr eigenes Equipment. Die POW ist in sieben Städten, vor allem im Nordosten Polens, präsent und zählt um die 150 Mitglieder. Es ist nur eine der zahlreichen aktiven paramilitärischen Organisationen im Land, die Schätzungen zufolge landesweit bis zu 40.000 Mitglieder zählen. Die POW ist im Vergleich relativ klein, in der Region aber gut vertreten.
Seit dem Jahr 2015 interessiert sich außerdem das polnische Verteidigungsministerium für die freiwilligen Schutztruppen. Es bietet Kooperationsmöglichkeiten gegen Ausbildungs- und Trainingseinheiten in militärischen Einrichtungen an. Die POW selbst hat aber noch nicht an solch einem Programm teilgenommen. „Das ist nur was für die größeren Organisationen”, erklärt Augustynowicz.
„Mir gefällt der Drill”
Am Abend des zweiten Ausbildungstages im Camp hat Marta Jarosz, die Zugführerin bei der POW, gerade ihren Workshop zu aktuellen Konflikten beendet. Sie hat über den Krieg in Syrien referiert und den Israelisch-Palästinensischen Konflikt besprochen. Gerade macht sie eine kurze Pause, bevor es mit dem Anwesenheitsappell weitergeht.
Marta ist der POW vor vier Jahren beigetreten. Ihr damaliger Freund hatte sich in der Pfadfinderbewegung gelangweilt und nach einer Organisation gesucht, die einer echten Armee ähnelt. Dann sind sie auf Facebook zufällig über die POW gestolpert, haben mehrere Interessenten in Suwałki zusammengetrommelt und Augustynowicz die notwendigen Dokumente geschickt. Sie wollten eine neue Militäreinheit in Suwałki, ihrer Stadt mit 70.000 Einwohnern, 30 Kilometer von der litauischen Grenze gründen.
„In der ersten Unterrichtsstunde habe ich so viele Liegestütze gemacht wie noch nie in meinem Leben”, lacht die 21-Jährige. Liegestütze sind hier Standardstrafe für schlampige Kleidung (ein nicht ganz zugeknöpftes Hemd zum Beispiel) und Übungsfehler. Kritik gab es während der gesamten Dauer des POW-Camps in Augustów nur einmal, als ein Lehrer, der das Wochenende über hier arbeitete, sich über das andauernde Geschrei beschwerte. „Ich war ja auch mal bei der Armee, aber nicht mal dort hat man die Leute so schlimm gedrillt”, beschwert er sich.
„Mir gefällt gerade der Drill. Normalerweise fängt man mit siebzehn an zu trinken und zu rauchen und emanzipiert sich damit auch ein Stück von den Eltern. Aber ich habe das nie gebraucht, weil meine Eltern mich nie übermäßig kontrolliert haben”, antwortet Marta mit ihren langen, blonden Haaren, heller als ihre Naturhaarfarbe gefärbt. Heute leitet sie die paramilitärische Einheit in Suwałki, die 20 Personen zählt, auch ihren jüngeren Bruder. „Die Organisation bringt dir Selbstständigkeit, Disziplin und Teamwork bei”, zählt Marta stolz auf. „Ich fühle mich verantwortlich für sie. Es macht einfach Spaß zu beobachten, wie sie sich immer weiter verbessern”, lobt sie ihre Rekruten.
Väter und Helden
Am dritten Tag im Camp marschiert die Gruppe 35 Kilometer. Sobald sie die Stadt verlassen, stimmen sie Soldatenlieder an. Später im Wald laufen sie in Doppelreihen – und in völliger Stille. Augustynowicz läuft ganz hinten, als letzter der Gruppe. „Bei uns gibt es keine Leute aus gutem Hause, die viel Geld haben. Nicht selten kommen sie aus kaputten Familien. Die Eltern arbeiten im Ausland oder sie brauchen die Hilfe ihrer Kinder auf dem Hof“, sagt er. Die Organisation gibt ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl.
Piotr Augustynowicz erwähnt auch die Rolle der Familie in dieser konservativ geprägten Region. „Heute verbringen die Väter weniger Zeit mit ihren Söhnen. Sie gehen zum Beispiel nur noch selten angeln.” Er weiß, wovon er spricht. Denn als Junge musste er viel im Haushalt helfen, die familiären Beziehungen waren alles andere als einfach.
„Heute verbringen die Väter weniger Zeit mit ihren Söhnen.”
Augustynowicz hat keine eigene Familie gegründet, war immer Single. „Es ist sehr schwer, mit einem Grundschullehrergehalt eine Familie zu versorgen”, begründet er. Seine komplette Freizeit widmet er deshalb der POW und ihren Mitgliedern. Manchmal haben ihn Mitglieder sogar mitten in der Nacht angerufen, zu betrunken, um alleine den Nachhauseweg zu finden. Augustynowicz hat sie dann bei sich übernachten lassen. Einem anderen Mitglied hat er Geld geliehen, damit er wegen ausstehender Raten nicht in Schwierigkeiten kam. „Es freut mich zu sehen, dass sie ihr Leben planen, einen Job finden oder eine Familie gründen. Es freut mich, sie spontan auf der Straße zu treffen und mit ihnen zu sprechen oder wenn sie mich als fertig ausgebildete Soldaten zu ihrer Vereidigung einladen”, so Augustynowicz.
Bei der POW wird auch viel über Geschichte gesprochen. Historisches Vorbild ist und bleibt Piłsudski und die sogenannten Verstoßenen Soldaten (poln. Żołnierze wyklęci), Mitglieder des Untergrunds, der nach 1945 gegen das kommunistische Regime gekämpft hat. In dieser Region ist besonders die Erinnerung an die Razzia von Augustów (poln. Obława augustowska) im kollektiven Gedächtnis geblieben, eine Gemeinschaftsaktion sowjetischer Sicherheitskräfte und polnischer kommunistischer Einheiten, in deren Rahmen 600 Menschen verschleppt wurden. Die Todesfälle sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Augustynowicz ist sich sicher, der klassische Geschichtsunterricht komme bei jungen Menschen nicht mehr an: „Man muss mit positiven Figuren argumentieren, noch besser mit Lokalhelden, von denen es hier ja genügend gibt”, ist er überzeugt. „Das ist ganz wichtig, um ihnen zu zeigen, ‘ihr seid wichtig, seid stolz auf etwas’. Das fördert die richtige Einstellung.” Probleme gibt es aber dann, wenn das Geschichtsverständnis nicht mehr bei allen das gleiche ist. Augustynowicz weiß noch, dass manche Historiker behaupten, die Verstoßenen Soldaten hätten Kriegsverbrechen auf nationale Minderheiten begangen. Seine jungen Rekruten sind darüber nicht mehr auf dem Laufenden.
Suwałki hat sich an die Uniform gewöhnt
Am Montag, einen Tag nach dem Ausbildungswochenende, treffen wir Marta im Kreiswehrersatzamt in Suwałki wieder. Sie hat einen Stapel Dokumente unter dem Arm, denn im September beginnt der viermonatige Vorbereitungsdienst für die richtige Armee. Marta hofft, dass sie einen Platz in der Nähe von Ełk bekommt, um ihr Logistikstudium nebenbei fortsetzen zu können. Auch ihr jüngerer Bruder ist dabei. Auch er will zur Armee.
Marta würde in der Zukunft gern im Grenzschutz arbeiten. In ihrer Führungsrolle fühlt sie sich wohl wie ein Fisch im Wasser. „Alle kennen mich hier”, sagt sie und klopft an die nächste Tür. Sie kommt durchschnittlich einmal die Woche hier vorbei, um die Formalien für die POW zu erledigen. Auch der Sohn der Beamtin, die die Dokumente entgegennimmt, ist bei der POW: „Suwałki hat sich an die Uniform gewöhnt”, erwidert sie.
Marta bewahrt alle Dokumente der POW zuhause in ihrem Zimmer auf: der halbe Schrank ist voller schwarzer Aktenordner. Die andere Hälfte hängt voller Uniformen, sieben an der Zahl. Martas Zimmer könnte das eines Teenagers oder aber auch das eines Soldaten sein. Die Wände sind gelb und violett gestrichen. Marta liebt Geschichtsbücher: Titel wie Die Mädchen des Aufstands (poln. Dziewczyny z powstania) oder Die Schlacht um Monte Cassino (poln. Bitwa o Monte Cassino). Auf dem Fensterbrett stehen neben Kosmetik und Topfblumen auch fünf Plastik-Granaten.
„Am Anfang wollte ich den ganzen Kram nicht in meinen eigenen vier Wänden aufbewahren, aber dann habe ich eben ausgeholfen”, lächelt Martas Mutter und gießt einen Kaffee auf. Der älteste Sohn von drei Geschwistern ist seit zwei Jahren Berufssoldat. „Ich bin stolz auf meine Kinder, dass sie im Leben durchkommen. Ich hoffe, dass sie es leichter haben werden als wir. Mein Mann und ich haben ein Leben lang schwer geschuftet”, sagt sie.
Marta wird überall in Suwałki geschätzt, erhält viel positives Feedback. Eine Museumsmitarbeitern, die wir im Park treffen, lässt kein schlechtes Wort an ihr: „Sie ist unser lebendiger Patriotismus!” – Marta betont jedoch, dass die POW politisch vollkommen neutral sei. Die Struktur möchte mit keiner Partei in Verbindung gebracht werden. Das ist jedoch schwierig, weil Suwałki, genau wie der Rest des Landes, politisch gespalten ist: Die Stadt hat zwar einen unabhängigen Bürgermeister, stärkste Kraft im Stadtrat ist aber die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (poln. Prawo i Sprawiedliwość, PiS). Auch der Stellvertreter des Innenministers stammt aus der Region. „Es ist jetzt schon soweit gekommen, dass beide Lager unterschiedliche Feiern für die gleichen Anlässe organisieren und uns getrennt einladen”, sagt sie.
Im Frühling war Marta zwei Wochen in Berlin. Ihre deutschen Freunde könnten absolut nicht nachvollziehen, aus welchem Grund sie bei der POW aktiv sei. Sie zeigte ihnen die Filme aus dem Unterricht, einer zum Beispiel handelt von einer Übernachtung im Wald bei minus 20 Grad. „Ich bin glücklich, dass ich etwas mit meinem Leben anfange, stolz darauf, wie sich die Dinge entfalten. In Berlin gibt es alles und nichts. Alle trinken nur Bier, aber ihr Leben stagniert. Bei uns wissen alle, dass am Samstag um 6 Uhr morgens die POW durch die Stadt marschiert. Sicher hat sich Suwałki auch deshalb an den Anblick von Uniformen gewöhnt.